Michael Marrak

IMAGON

Nachdruck, Bastei/Lübbe-TB 24325, 2004, 573 Seiten, 8,90 €.
Coverzeichnung: Michael Marrak, Innenillustrationen: Dirk Berger.

Genau wie sein erster Roman, LORD GAMMA (Shayol Verlag bzw. Bastei/Lübbe-TB 24301), erschien auch IMAGON zunächst in einem Kleinverlag (diesmal im Festa Verlag), bevor er in einer Taschenbuchausgabe einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht wurde. Im Gegensatz zu LORD GAMMA ist IMAGON einfacher aufgebaut, weist nur eine Handlungsebene auf, und spielt auch nicht in ferner Zukunft und nicht außerhalb der Erde, was hier nur informatorisch wiedergegeben und nicht als Nachteile betrachtet werden soll.
Der Geophysiker Dr. Poul Silis haßt Eis und Kälte, jedoch folgt er dem Ruf in die grönländische Forschungsstation nahe Mount Breva, deren Wissenschaftler die Absturzstelle eines Meteoriten untersuchen – angeblich. Doch tatsächlich ist dort kein Meteorit eingeschlagen, vielmehr ist das Eis aus dem Inneren des Kraters heraus geschmolzen worden (und wieder erstarrt) und hat ein Bauwerk an den Hängen des Mount Breva freigelegt, das keine Öffnungen und Zugänge aufzuweisen scheint.
Silis wird der Zugang zu dem Bauwerk zunächst verweigert. Stattdessen untersucht er das sogenannte „Schluckloch“, die Öffnung, in der das Schmelzwasser der Ausgrabungsarbeiten abläuft. Er provoziert dabei das Auftauchen einer Lebensform, die offenbar auf dem Grund des Kraters lebt, und die für seinen Begleiter verheerende Auswirkungen hat. Der Leiter der Mount Breva-Station versucht Silis klarzumachen, auf was die Wissenschaftler gestoßen sind: auf die Inkarnationen von mächtigen Wesen, die den Weg auf die Erde zurück suchen. Und Silis ist eine Schlüsselrolle in dieser Auseinandersetzung zugedacht, auch gegen seinen Willen.
Spätestens auf Seite 240 wird dem Leser klar, daß er (und der Protagonist) Wesen aus dem Cthulhu-Mythos H. P. Lovecrafts begegnet ist (bzw. begegnen wird), auch wenn er Details des Mythos nicht kennen sollte. Verwunderung könnte in einem solchen Fall allenfalls der ausbleibende Bezug auf Inhalte der Edda auslösen... Jedenfalls erklärt der Autor genug über die Jahrtausende alten Wesen, ihre Kriege gegeneinander und ihre Helfer, um (im Rahmen des Romans) keine Wissenslücken offenzulassen – von der Motivation der Aqunaki, Esh’maga usw. für ihre Auseinandersetzungen und ihr Interesse an der Erde und den Menschen einmal abgesehen.
Marrak erzählt seinen Roman sehr stringent, spannend und konsequent. Die Handlung steuert kontinuierlich ihrem Höhepunkt entgegen. Ihr Aufbau ist ausgewogen; im Gegensatz zu LORD GAMMA kann es Marrak diesmal vermeiden, im letzten Drittel des Romans eine Reihe von Wendungen vornehmen zu müssen, um das Geschehen zu einem plausiblen Abschluß zu bringen. Die verschiedenen Teile der Handlung greifen passend ineinander (das gilt auch für die Zeitreise des Protagonisten und für seine Affäre mit einer Grönländerin jener Zeit, die Akzeptanz gewisser mythologischer Elemente vorausgesetzt). Die wissenschaftlichen Aspekte des Romans scheinen sehr gut recherchiert, kontrastieren ist ihrer Fundiertheit und Nüchternheit aber eigentümlich gegenüber den mythologischen Elementen. In dieser Hinsicht ist LORD GAMMA homogener.
IMAGON ist perfekt inszeniert und hervorragend geschrieben. Freilich: Es ist keine innovative Idee, in der Arktis (oder in der Antarktis) Wissenschaftler (oder Agenten) auf Objekte oder Lebensformen treffen zu lassen, die nicht von unserer Welt stammen. Und genauso ist das Bestreben eines Roman- oder Drehbuchautors , die Motivation jener Lebensformen aus alten oder neuen Mythen zu beziehen, ein Rückgriff auf Bekanntes. Die Meisterschaft von Darstellung und Stil macht IMAGON aber im Taschenbuch durchaus akzeptabel. Im (teueren) Hardcoverformat wäre der Roman ein Ärgernis gewesen – zugegebenermaßen nicht für Cthulhu- und Lovecraft-Fans.

 

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