Obwohl Bernhard Kellermann in seiner Benommenheit noch keinen klaren Gedanken fassen und wegen des grellen, kalten Lichtes nur kurz die Augen öffnen konnte, erkannte er, daß er der einzige war, der erwacht war. Und gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß genau das falsch war.
Erst nach Stunden, wie ihm schien, hatte er sich soweit regeneriert, daß er sich aufrichten konnte. Fröstelnd zog er die dünne Synthetikdecke, die ihn bislang gewärmt hatte und nun in seinen Schoß gerutscht war, zu den Schultern hoch. Er war nackt. Seine Hibernationskammer befand sich im ersten Drittel des fünfzig Meter langen Flures, der zu beiden Seiten mit Kälteschlafkammern versehen war, jeweils drei übereinander. Der Raum war königsblau. Die transparenten, zwei Meter langen Sichtscheiben erlaubten den Blick auf die Schläfer.
Kellermanns Hibernationskammer war als einzige ausgefahren worden. Doch kein Angehöriger des medizinischen Personals war erschienen, um ihm beim Reanimationsprozeß zu betreuen. Die Displays über den übrigen Kälteschlafkammern der Kaverne zeigten durchweg ein sattes Grün, doch die Kontrollanzeigen seiner Kammer blinkten in einem dunklen Rot, wie Kellermann mit einem Blick über seine Schulter feststellte.
Er löste die Infusionsschläuche aus den Arm- und Beinvenen, entriegelte die Befestigungen des transparenten Seitenteils, das daraufhin zu Boden fiel, schwang die Beine über den Rand der Hibernationskammer, berührte mit seinen nackten Füßen den hellgrauen Teppichboden und tat ein paar Schritte. Kellermann hatte damit gerechnet, dabei von Gleichgewichtsstörungen beeinträchtigt zu werden, doch diese stellten sich nicht ein.
Zunächst konnte er zufrieden sein. Der Reanimationsprozeß war offenbar komplikationslos verlaufen, und seine Hibernationskammer befand sich in der zweituntersten Reihe, so daß er sie ohne fremde Hilfe hatte verlassen können. Kellermann schritt langsam auf das Schott an der Rückseite des Ganges zu. Er erinnerte sich an die umfangreiche Instruktionsphase; vor dem Schott befanden sich auf beiden Seiten Behandlungsräume, die auch mit Kommunikationsterminals ausgestattet waren.
Die Datums- und Zeitanzeige über dem Schott wies die Zahlenfolge 24.09.2019:21.31.03 auf. Kellermann blieb abrupt stehen und stöhnte. Er war dreißig Jahre zu früh erwacht!

*

Durch die transparente Frontseite studierte Kellermann die dreißigjährige, dunkelblonde Frau in ihrer Hibernationskammer. Er beobachtete, wie sich ihr Busen in etwa fünfminütigen Abständen unter ihren Atemzügen hob und senkte. Das Display über der Kammer gab ihren Namen mit Catherine Keach, ihren Nationalität mit Englisch und ihren Beruf mit Meeresbiologin an.
Kellermann vermutete, daß sie mit ihrem Team die Nutzbarkeit der Meere auf ihrer neuen Heimat, dem dritten Planeten des Sonnensystems Proxima Centauri, untersuchen sollte - falls dort Meere existierten. Er gab auf den holografischen Tasten neben dem Display die Notfallcodes ein, die die zentrale Überwachung und Steuerung der Kryoschlafkammer durch den Schiffsrechner überbrückten und den Reanimationsvorgang einleiteten.
Seine Reanimation lag drei Wochen zurück. In den Behandlungsräumen hatte er Kleidung und Nahrungskonzentrate gefunden. Über das Terminal hatte er den Zustand seiner Hibernationskammer abgefragt: In der Sauerstoffversorgung war eine irreparabele Störung eingetreten, so daß der Reanimationsprozeß vorzeitig eingeleitet worden war.
Die Kontrolleuchten der Hibernationskammer wechselten von grün auf gelb. Für die Dauer des Reanimationsprozesses würde sich diese Anzeige nicht verändern, wie Kellermann wußte, von einem etwaigen Zwischenfall abgesehen. Der reguläre Ablauf des Prozesses bestand aus der Erhöhung der Temperatur der Kälteschlafkammer und damit auch der Körpertemperatur der Schläferin. Gleichzeitig würden ihr über die Infusionsschläuche diverse Medikamente zugeführt werden, über deren Art und Dosierung Kellermann aber nicht informiert war. Er war Techniker für landwirtschaftliche Maschinen, kein Arzt.
Mit dem Hauptcomputer der VALLEY FORGE hatte er keine Kommunikation herstellen können: Zwar hatte ihm der Schiffsrechner das Leben gerettet, aber seine Programmierung sah offenbar nicht vor, daß bereits dreißig Jahre vor der Ankunft im Proxima Centauri-Sonnensystem der erste Schläfer seiner Fürsorge bedurfte. Immerhin war es Kellermann gelungen, das Schott zu öffnen und damit zu den übrigen Kryoschlafkavernen in dem Raumschiff zu gelangen.
Kellermann kehrte nach zwölf Stunden zurück, kurz bevor ein Summton vom vom Abschluß des Reanimationsprozesses kündete. Er hatte zunächst beabsichtigt, diesen Zeitraum in der Kaverne zu verbringen, war jedoch, nachdem er eine Stunde hockend auf dem Boden verbracht hatte, in den Behandlungsraum zurückgegangen, den er sich als Wohnquartier eingerichtet hatte. Er hatte versucht, zu schlafen, die nötige innere Ruhe jedoch nicht gefunden. Als es ihm endlich gelungen war einzuschlafen, hätte er das Wecksignal des Kommunikationsterminals beinahe nicht wahrgenommen.
Die Kälteschlafkammer von Catherine Keach wurde ausgefahren. Kellermann entfernte die transparente Fronstseite, löste die Kanülen und Schläuche aus dem Körper der Frau und hob sie aus der Kammer. Er verließ den Raum und trat auf den kreisförmigen Gang, der sämtliche Kavernen, in denen die Hibernationskammern untergebracht waren, miteinander verband.
In seinem Quartier bettete er die Frau auf eine Liege und breitete zwei weitere Synthetikdecken über sie aus. Als sie ihr Bewußtsein erlangt und die ersten Nahrungskonzentrate zu sich genommen hatte, erklärte er ihr seine Lage und aus welchem Grund er sie reanimiert hatte.
Catherine Keach antwortete nicht sofort. Ihr Gesicht wurde zu einer starren Maske und sie musterte ihn kalt. "Ich kann es nicht glauben," flüsterte sie. "Sie haben mich nur deshalb reanimiert, um mit mir Adam und Eva zu spielen?"
Kellermann schüttelte den Kopf. "Nein, nicht nur mit Ihnen," antwortete er leise und vermied einen direkten Blickkontakt. "Sie sind lediglich die erste."

*

Als sie sicher waren, daß Kellermann schlief, verließen sie vorsichtig seine Kabine und trafen in einer Kälteschlafkaverne auf der gegenüberliegenden Seite des Raumschiffes wieder zusammen. Diese Kammer war in einem hellen, aber nicht blendenden Rot gehalten. Sie waren zu fünft, drei Frauen und zwei Männer.
Einer der Männer übernahm es, das Schott mit dem Handrand hinter sich zu verschließen. Der Schiffscomputer würde die automatische Steuerung der Türen erst in etwa dreißig Jahren freigeben. Sie ließen sich im Halbkreis auf den dunkelblauen Teppichboden sinken, der zu dem wenigen Luxus gehörte, den das Raumschiff zu bieten hatte. Immerhin sollten sich die Passagiere darin auch nur wenige Tage, allenfalls Wochen in wachem Zustand aufhalten.
Catherine Keach sagte: "Wir sind in einer unhaltbaren Situation."
"Es gibt nur eine Lösung für unser Problem," erklärte Pierre Granier, ein schwarzer Franzose, der in ihrer neuen Heimat als Hubschrauberpilot eingesetzt werden sollte. "Kellermann muß uns in den Kälteschlaf zurückversetzen. Er hat kein Recht, von uns zu erwarten, daß wir in den nächsten dreißig Jahren seine Einsamkeit mit ihm teilen." Er gestikulierte unbeherrscht mit einen Armen und Händen, während er sprach.
Kirill Bulytschow, der russische Arzt, nickte. "Er nimmt uns die besten Jahre unseres Lebens", sagte er. "Außerdem können wir keineswegs gewiß sein, daß wir einen zweiten Reanimationsprozeß überleben werden." Er war der älteste von ihnen, vielleicht der älteste Kolonist überhaupt. Sein Haar war bereits weiß.
Catherine Keach schüttelte den Kopf. "So einfach ist das nicht. Kellermann könnte uns jederzeit erneut reanimieren. Oder andere." Sie stand auf, trat zurück, wandte sich um und studierte die Displays der Kälteschlafkammern vor sich.
"Das heißt also, daß jemand von uns zurückbleiben muß," schlug Hui Nguyen Pham, die kleine Vietnamesin und Informatikerin, vor. Sie drehte den Kopf und starrte Catherine Keachs Rücken an. In der Sichtscheibe der Kälteschlafkammer linkerhand spiegelte sich das Gesicht der Vietnamesin. Catherine Keach lachte kurz auf, drehte sich um und setzte sich wieder zwischen Granier und dem russischen Arzt auf den Boden.
"Und wer soll das sein?" führte Bulytschow aus. "Natürlich muß jemand zurückbleiben, bereits deshalb, um die übrigen in die Hibernation zu versetzen. Die Kryoschlafkammern sind keine automatischen Systeme, die in Funktion treten, sobald sich jemand in sie hineinlegt. Niemand von uns wird aber freiwillig bereit sein, die nächsten dreißig Jahre mit Kellermann zu verbringen, um ihn von seinen Dummheiten abzuhalten. Oder sollen wir vielleicht Streichhölzer ziehen, und derjenige, der das kürzeste dabei erwischt, soll Kellermanns Partner oder Partnerin werden?"
"Streichhölzer ziehen...?" warf Sigrid Kaminski, die US-amerikanische Landwirtschaftsingenieurin, irritiert ein. Pierre Granier verzog das Gesicht zu einer Grimasse, und Hui Nguyen Pham sah sie verständnislos an.
"Wir müssen Kellermann töten," stellte Catherine Keach fest und hob den Kopf. Granier und Sigrid Kaminiski richteten abrupt und bestürzt ihre Blicke auf sie, während Bulytschow und Hui Nguyen Pham die Augen abwandten und auf den Boden starrten. Die Vietnamesin winkelte die Knie an und umfaßte sie mit ihren Armen.
Bulytschow antwortete erst nach einigen Minuten. "Das ist Mord," sagte er leise. "Wollen wir auch auslosen, wer von uns zum Mörder oder zur Mörderin werden soll?"
"Natürlich ist es Mord," stellte Catherine Keach mit ruhiger Stimme fest. "Aber wir haben keine Alternative. Ich werde Kellermann töten, und ich werde auch zurückbleiben."
Granier hob die Hand. "Es gibt eine Alternative", sagte er leise. "Unser Flug wird noch dreißig Jahre in Anspruch nehmen. In Abständen von sechs Monaten kann jeweils ein weiterer Kolonist reanimiert werden, der seinen Vorgänger wieder in den Kälteschlaf versetzt. Oder auch in jährlichen oder in anderen beliebigen Abständen." Er lächelte erleichtert. "Ich schätze, jeder an Bord der VALLEY FORGE sollte in der Lage sein, ein halbes Jahr allein zu verbringen, ohne bleibende psychische Schäden zu nehmen."
"Das ist leider keine Alternative," erwiderte Bulytschow. "Ich stellte bereits fest, daß wir keineswegs davon ausgehen können, daß wir unseren zweiten Reanimationsprozeß überleben werden. Wenn wir nach diesem Vorschlag verfahren, ist es möglich, daß wir nicht nur einen Menschen umbringen, sondern - sechzig."

*

Catherine Keach hatte ein Metallbein von jener Liege gelöst, auf die sie Kellermann nach ihrer Reanimation gebettet hatte, und ihn im Schlaf erschlagen. Gemeinsam hatten sie Kellermanns toten Körper in einen Leichensack gelegt, der zu den medizinischen Vorräten des Behandlungsraumes gehörte, und in seine defekte Hibernationskammer geschafft.
Bulytschow, Granier, Sigrid Kaminski, Hui Nguyen Pham und Catherine Keach taten diese Arbeit ernst und schweigend. Catherine Keach war gefaßt. Kellermanns Hibernationskammer versiegelten sie mit selbstklebenden Verbandsmaterial.
Catherine Keach versorgte gemeinsam mit Bulytschow die übrigen drei bei ihrem Wiedereintritt in den Kryoschlaf. Danach brachte sie Bulytschow zu seiner Hibernationskammer. Er legte sich die Kanülen und Infusionsschläuche an und gab sich auch selbst die betäubende Injektion, mit der Hibernationsprozeß begann. Die Schläfer sollten nicht im wachen Zustand in die Kammern geschoben werden, um Anfälle von Klaustrophobie zu vermeiden.
"Ich kann leider keine tröstenden Worte für Sie finden," sagte Bulytschow zum Abschied. Catherine Keach nahm seine Hand und drückte sie. Sie waren es gewesen, die den Plan ausgearbeitet hatten, was zu einem Gefühl der Verbundenheit zwischen ihnen geführt hatte. "Ich kann nur sagen: Bis in dreißig Jahren."
"Ja, bis in dreißig Jahren..." erwiderte Catherine Keach. Bulytschow verlor schnell das Bewußtsein, Catherine Keach schob seine Kammer in die Wand hinein und tippte jenen Code ein, den sie bereits dreimal zuvor eingegeben hatte und der den Schiffsrechner dazu veranlassen würde, die Steuerung der Hibernation zu übernehmen.
Catherine Keach starrte Bulytschow noch einige Minuten an, dann wandte sie sich ab und verließ die Kälteschlafkaverne.
Die nächsten Wochen nach dem Wiedereintritt ihrer Kameraden in die Hibernation verbrachte Catherine Keach mit ihrer Arbeit. Sie befaßte sich mit den neuesten Erkenntnissen in der Meeresbiologie, die ihnen während des bisherigen Fluges per Funk übermittelt worden waren. Den Unterhaltungsprogrammen, selbst den virtuellen Realitäten, wurde sie dagegen rasch überdrüssig. Auch für Literatur hatte sie noch nie ein Interesse entwickeln können.
Catherine Keach betrat zum wiederholten Male die lindgrüne Kaverne, drehte sich um und las die Angaben auf dem Display über den Mann in der Kälteschlafkammer ab: Daryll Deever, zweiunddreißig Jahre alt, US-Amerikaner, Maschinenbauingenieur. Auch das war ein Vorgang, den sie inzwischen mehrfach ausgeführt hatte. Die Anzeigen im Display über die Körperfunktionen waren grün und hatten bislang auch keine Veränderung aufgewiesen, seitdem Catherine Keach damit begonnen hatte, sie regelmäßig zu kontrollieren.
Als sie das Angebot des Kommunikationsterminals nicht mehr befriedigen konnte, hatte sie damit begonnen, die einzigen Bereiche des Raumschiffes, die ihr zugänglich waren, zu durchstreifen, die Kälteschlafkavernen. Der Mann in der Kammer vor ihr hatte dabei ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Deever war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dichtem, braunem Haar. Catherine Keach mußte sich eingestehen, daß er auf sie attraktiv und anziehend wirkte. Sie hob die Hand und gab auf der Tastatur den Code für die Notfallreanimation ein, zunächst nur die erste Sequenz –