Das Pad schlug links neben ihm auf dem Schreibtisch auf, prallte ab und katapultierte sich selbst an die Außenkante des Flachbildschirms. Es zerbrach, das Gehäuse und das Display tanzten über die Schreibtischplatte, bevor sie zu Boden fielen. Der Tropheus moorii-Schwarm, der im Aquarium linkerhand scheinbar interessiert Bernhard Kellermanns Arbeit beobachtet hatte, stob auseinander.
Kellermann wandte sich abrupt um. Er hatte nicht nur die Tür seines Arbeitszimmers nicht verschlossen, sondern war auch in seine Arbeit vertieft gewesen. Daphne stand an den Türrahmen gelehnt und blickte ihn freudlos an. Kellermann fühlte Verärgerung in sich aufsteigen, doch ihm wurde nicht bewußt, worüber er mehr erbost sein sollte: über seine eigene Nachlässigkeit, die dazu geführt hatte, daß er das Pad in der Wohnung unbeachtet zurückgelassen hatte, wo es Daphne finden konnte, oder darüber, daß seine Frau das Gerät zerstört und, was ihn stärker verärgerte, seine Fische verschreckt hatte.
„Du hast eine weitere Hypothek auf die Wohnung aufgenommen,“ stellte Daphne mit ruhiger und klarer Stimme fest. „Ich will den Grund dafür erfahren.“
„Es ist meine Wohnung,“ erwiderte Kellermann zurückhaltend, wohlwissend, daß Daphne diese Ausflucht nicht akzeptieren würde.
„Aber ich bezahle die Raten,“ gab Daphne die erwartete Antwort. „Aber nicht nur das, mein Lieber. Ich halte dich aus. Völlig. Es liegt doch Jahre zurück, daß du mit deinen Geschichten auch nur einen Euro verdient hast.“ Daphne erinnerte sich. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte sie es als sehr faszinierend empfunden, mit einem Schriftsteller zusammenzusein. Damit konnte sie sich von ihren Freundinnen und deren Partner abheben. Außerdem konnte Bernhard, wie sie sich widerwillig eingestehen mußte, sehr charmant sein, was sie über den Altersunterschied von knapp zehn Jahren hatte hinwegsehen lassen.
„Das will ich ändern,“ sagte Kellermann. Er spürte, wie seine Motivation, Daphne für seinen Plan zu gewinnen, zunahm. „Ich will meine Kurzgeschichten und Romane selbst herausgegeben. Als Bücher. Als gedruckte Bücher.“ Er breitete die Arme aus.
Daphne lachte schallend. „Als Bücher?“ wiederholte sie. „Deine Texte will bereits in der Datensphäre niemand lesen, worin sich eigentlich nur Amateure tummeln, wie du mir selbst einmal erklärt hast. Du hast auch nicht Verleger finden können, die bereit waren, Deine Kurzgeschichten und Romanfragmente als V-Books zu publizieren. Und nun?! Deine Bücher selbst herausgeben, als dicke und gebundene Drucke, die in den Schränken nur Platz wegnehmen und allenfalls von denen gekauft werden, die zuviel Geld haben?“
Daphne schwieg ein paar Sekunden, bevor sie fortfuhr. „Und das auch nur dann, wenn die Bücher von bekannten Autoren stammen. Die Höhe der neuen Hypothek läßt nur den Schluß zu, daß die Welt mit Deinen gedruckten Büchern überschwemmen willst. Es tut mir leid, mein Lieber, aber das wird Konsequenzen für Dich haben.“ Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
Kellermann wandte sich wieder dem Bildschirm zu, blickte aber nicht auf den Text, sondern über den Monitor hinweg durch das Fenster in den kleinen Garten, der zu seiner Wohnung gehörte. Er hatte gehofft, Daphne noch einmal mit seiner Euphorie anstecken zu können, wie es vor allem in der ersten Phase ihrer Beziehung oft der Fall gewesen war, bevor Daphne jene Distanz zu ihm entwickelt hatte, die ihr Verhalten stetig unverständlicher werden ließ. Aber seine Enttäuschung hielt sich in Grenzen, ihm war allerdings klar, daß nun größere Eile geboten war.
Über die Datensphäre vereinbarte er einen Besprechungstermin mit Dr. Himes von der Zeus Genetics am morgigen Nachmittag. Der Termin würde ihm eine bequeme Reise nach München ermöglichen.
Bernhard Kellermann zog die rechte Schublade des Schreibtisches hervor und tastete unter den ungeordneten Ausdrucken seiner Texte nach dem Laserrohr. Er fand es auf dem Boden der Schublade an der Rückseite, genau wie er es erwartet hatte. Seine rechte Hand schloß sich um das Gerät, das kühle Metall übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Kellermann hatte das Laserrohr aus handelsüblichen Teilen selbst gebaut und nach einer Anleitung aus der Datensphäre – modifiziert.
Kellermann befürchtete nicht, daß Daphne das Laserrohr entdecken würde. Selbst wenn sie den Code des elektronischen Schlosses des Schreibtisches kennen würde, könnte sich Daphne nicht dazu entschließen, die Schublade zu durchsuchen. Kellermann wußte, daß ihr die wirren Papiere, die losen, ungeordneten Blätter, die teilweise sogar mit handschriftlichen Korrekturen versehen waren, zuwider waren.

*

Dr. Himes bat Kellermann, an dem Besprechungstisch Platz zu nehmen. Die mit schwarzem Leder bezogene Sitzgruppe bestand aus einem niedrigen Glastisch, einem zweisitzigen Sofa und drei Sesseln. In einen von ihnen ließ sich Kellermann sinken. Es war sein zweiter Besuch bei der Zeus Genetics in München, und wieder war er von der Großzügigkeit des Büros seines Gesprächspartners beeindruckt.
An der Stirnseite stand ein großer, leicht verwinkelter Schreibtisch aus Buche, mit einem schwarzen Ledersessel dahinter. Kellermann war sicher, daß der Schreibtisch massiv war, nicht furniert. An der linken Wand hingen die holografische Reproduktionen dreier van Gogh-Gemälde: „Die Arlesierin“, „Die Brücke in Arles“ und „Der Spitalgarten von Saint-Paul.“ Eine vom Fußboden bis zur Decke reichende Fensterfront nahm die rechte Seite des Zimmers ein und ermöglichte einen beeindruckenden Blick über die Museumsinsel auf die Altstadt, aus der sich die St. Peters- und die Frauenkirche markant emporhoben.
Dr. Himes räusperte sich. Kellermann war in der Betrachtung der Holografien versunken, wandte sich nun aber dem kleinen, dunkelhaarigen Mann zu, der auf dem Sofa gegenüber Platz genommen hatte. Ein abgeschaltetes Pad lag neben Dr. Himes.
„Sie wissen,“ begann Dr. Himes, „daß ihr Auftrag sehr umfangreich ist. Das Klonen eines Menschen, seine Replikation, ist in der Regel der Arbeitsgang, der am schnellsten zu ledigen ist. Durch die jüngsten Fortschritte in der Gentechnik ist es möglich, die Zellteilung extrem schnell voranzutreiben. Dagegen kostet es viel Zeit, die Konditionierung des Replikanten vorzunehmen. Sie haben hohe Anforderungen gestellt: Der Replikant soll nicht nur ihrer sexuellen Befriedigung und der Erledigung hauswirtschaftlichen Arbeiten dienen, was nicht ungewöhnlich ist, auch nicht bei Paaren, sich nicht trennen wollen. Der Replikant ihrer Frau soll aber auch in der Lage sein, ihren Arbeitsplatz zu übernehmen. Dieser Wunsch ist selten, aber realisierbar, setzt aber eine genaue Kenntnis der Aufgaben und des beruflichen Umfeldes...“
„Sie wissen, daß meine Frau todkrank ist,“ unterbrach Kellermann den Angestellten der Zeus Genetics. „Der Krebs frißt sich schneller, als die Ärzte erwartet hatten, das Rückenmark hinauf und wird in wenigen Tagen das Gehirn erreicht haben.“ Kellermann legte bewußt eine Pause ein, bevor er fortfuhr: „Es ist keineswegs nur Sentimentalität, die der Grund meines Auftrags an sie ist, sondern meine Frau hat bislang auch, und das vertraue ich ihnen nur wegen des guten Rufes ihrer Firma an, meinen Lebensunterhalt sichergestellt.“
Wenn Dr. Himes von Kellermanns Geständnis überrascht war, ließ er sich das nicht anmerken. In der Tat hatte er bereits eine Vermutung zu hegen begonnen, die in diese Richtung zielte, als Kellermann ihn kurzfristig um einen Gesprächstermin gebeten hatte. Seit der konservativen Restauration, die vor knapp einem Jahrzehnt mit dem Wahlsieg Merkels begonnen hatte, genossen die Interessen der Industrie hohe Priorität. Jegliche Schranken in der Forschung und in der Anwendung von Zukunftstechnologien, sei es der Gen-, der Nano- oder Fusionstechnik, waren gefallen. Die pränatale Diagnostik war in der Gentechnik nur der Anfang gewesen. Jede Transaktion, die Gewinn versprach, wurde vom Staat nicht mehr behindert.
Dr. Himes nickte knapp. „Ihre Motive widersprechen keineswegs den Zielen unseres Hauses,“ antwortete er. „Und für werden sie selbstverständlich mit absoluter Diskretion behandeln. Sie werden aber verstehen, daß wir für die Beschleunigung des Prozesses das Einverständnis ihrer Frau benötigen und wir uns über die Zahlung einer Prämie verständigen müssen.“
Kellermann zog ein Pad aus der Innentasche und reichte es Dr. Himes. „Das habe ich vorausgesehen,“ sagte Kellermann. In die elektronische Signatur seiner Frau einzudringen und sie zu kopieren, war für jemanden wie ihn, der sich versiert in der Datensphäre bewegen konnte, nur eine Fleißarbeit gewesen, zumal Daphnes Sicherheitsbewußtsein nicht besonders ausgeprägt war. Die Zeus Genetics hatte bereits das erste Pad, mit dem er Daphnes Einverständnis zu ihrer Replikation gefälscht hatte und das er bei seinem ersten Gespräch mit Dr. Himes zusammen mit einigen Haarsträhnen seiner Frau übergeben hatte, komplikationslos akzeptiert. Kellermann rechnete nicht damit, daß es jetzt Probleme geben würde.
Dr. Himes prüfte die Informationen im Display des Pads. „In Ordnung,“ sagte er, nahm das Pad neben ihm zur Hand, schaltete es ein und legte es vor Kellermann auf dem Tisch.
Kellermann warf einen Blick darauf und spürte, daß er blaß wurde. Eine weitere Hypothek in dieser Höhe würde ihm seine Bank nicht bewilligen. Doch dann atmete er tief durch. Nach Daphnes Tod würde er noch weniger Probleme haben, über ihr Vermögen zu verfügen als zuvor. Er war sich sicher, daß seine Frau noch Guthaben vor ihm verbarg, aber nach ihrem Tod würde er das Geld aufspüren können.

*

Die Replikantin saß auf dem dunkelroten Sofa, das rechterhand und schräg versetzt hinter seinem Schreibtisch stand. Es war eine perfekte Kopie Daphnes, das etwas hartgeschnittene Gesicht, die dunkelblonden Haare, die Größe, die langen und schlanken Beine und die etwas zu breite Hüfte, waren vollkommen identisch. Nur der Identifizierungscode auf der linken Stirnseite, zwei schmale, in unregelmäßigen Abständen unterbrochene Balken, unterschied die Replikantin vom Original.
Die Zeus Genetics hatte gute und schnelle Arbeit geleistet. Kellermanns Gespräch mit Dr. Himes lag erst drei Tage zurück.
Die Bekleidung der Replikantin war von der Zeus Genetics gestellt worden, sie gehörte neben der diskreten Lieferung zum kostenlosen Service, der natürlich auch aus Kellermanns exorbitanter Zahlung beglichen wurde, aber als separater Posten auf der Rechnung nicht erschien. Kellermann hatte sich eine weiße Bluse und einen braunen Hosenanzug gewünscht, jene Kombination, die die Original-Daphne auf der Hochzeit eines Freundes, auf der sie sich kennengelernt hatten, getragen hatte.
Kellermann hatte mit Daphnes Eintreffen bereits vor einer Stunde gerechnet, üblicherweise beendete sie ihre Arbeit pünktlich. Daphne war eine altmodische Arbeitnehmerin, sie legte Wert auf geregelte Arbeitszeiten und lehnte es ab, zu Hause zu arbeiten, was Kellermann zu schätzen gewußt hatte. Die Replikantin zeigte keine Anzeichen von Ungeduld, gelegentlich lächelte sie.
Sie zeigte auch keine Reaktion, als schnelle Schritte in dem Flur zu vernehmen waren und die Tür aufgerissen wurde. „Ich habe mit meinen Anwalt gesprochen,“ sagte Daphne, noch während sie mit wehendem Mantel in das Arbeitszimmer stürmte. „Er wird sofort das Scheidungsverfahren eröffnen und ich...“ Daphne verstummte und blieb abrupt stehen, als sie ihr Ebenbild erblickte.
Kellermann zog die Schreibtischschublade heraus, griff zwischen die Papiere, umfaßte des Laserrohr und schaltete es ein. Nur schwach nahm er das Summen war, das davon zeugte, daß der Projektor von der Energiezelle aufgeladen wurde. Er würde nur einen Schuß abgeben können, doch das würde genügen.
„Ich habe keinen Moment daran geglaubt,“ sagte Daphne leise, „daß du mit dem Geld Bücher drucken willst.“ Kellermann nickte ohne seine Frau anzusehen, zog das Laserrohr hervor, erhob sich, wandte sich um und richtete die Waffe auf Daphne. Sein letzter Gedanke, bevor er auf den Auslöser drückte, war Verwunderung, Verwunderung darüber, daß Daphne lächelte. Dann explodierte das Laserrohr in sein Gesicht.
Daphne ließ sich zu Boden fallen. Splitter schlugen hinter ihr die Wand ein, einige zerrissen ihren Mantel und streiften ihren Rücken, andere drangen in ihren Körper ein. Sie prallte auf den Boden und krümmte sich von den stechenden Schmerzen gepeinigt zusammen, die von den Splittern in ihrem Rücken ausgingen.
Kellermann sackte lautlos in sich zusammen und schlug dumpf auf dem Boden auf. Sein blutiger, formloser Kopf geriet in Daphnes Blickfeld. Sie erhob sich taumelnd, tat ein paar Schritte rückwärts, wandte sich um, brach im Flur in die Knie und übergab sich.
Nach einigen Minuten konnte Daphne wieder klar denken. Sie erhob sich und ging zurück, blieb aber im Türrahmen stehen. Seltsam emotionslos betrachtete sie die Leiche ihres Mannes. Der Fund des Laserrohrs in seinem Schreibtisch vor drei Wochen hatte nur den Schluß zugelassen, daß ihr Leben in Gefahr war. Die Kombination des Schlosses war lächerlich einfach gewesen, kein Hindernis für Daphne, die längst davon überzeugt gewesen war, daß ihr Mann etwas vor ihr verbarg.
Auch Daphne hatte Informationen über den Bau von Laserrohren in der Datensphäre gefunden, vor drei Nächten die Latexhandschuhe aus dem Erste Hilfe-Schrank genommen, übergestreift, die Schreibschublade geöffnet, mit zitternden Fingern das Gehäuse geöffnet und eine Rückkopplungsschaltung installiert, von deren Funktion sie keineswegs völlig überzeugt gewesen war – bis vor wenigen Minuten.
Die Replikantin saß noch auf dem Sofa, doch das Gesicht war starr. Auf ihrem Jackett befanden sich einige rote Flecken. Daphne konnte nicht erkennen, es sich lediglich um Blutspritzer handelte oder ob auch die Replikantin von Splittern getroffen worden war. Doch sie atmete regelmäßig und das Gesicht war unverletzt.
Daphne lächelte wieder. Sie spürte ihre Schmerzen nicht mehr. Sie mußte nicht einmal lügen, wenn sie nachher mit der Polizei sprach. Auf den Trümmerteilen der Waffe würde man nur die Fingerabdrücke ihres Mannes finden, die Handschuhe hatte sie längst entsorgt. Und nach dem Abschluß des Ermittlungsverfahren würde die Wohnung ihr gehören – und auch die Replikantin, eine angenehme Draufgabe, mit der sie nicht gerechnet hatte. Sicherlich hatte Bernhard sie darauf konditionieren lassen, auch ihren, Daphnes, Arbeitsplatz zu übernehmen.
Daphne spielte mit dem Gedanken, auch die Fische zu behalten.