Michael Marrak

MORPHOGENESIS

Originalausgabe, Bastei/Lübbe-TB 24339, 2005, 685 Seiten, 8,95 EUR.
Coverzeichnung: Michael Whelan.

MORPHOGENESIS ist der dritte Roman von Michael Marrak, der im Bastei/Lübbe Verlag veröffentlicht wurde und der, wie der Autor im Interview in PHANTASTISCH! 19 verrät, eine erweiterte Überarbeitung seines Romanerstlings STADT DER KLAGE, der 1997 in dem Kleinverlag edition mono erschien, darstellt. Der Band beginnt konventionell als Abenteuergeschichte: Der Archäologe Hippolyt Krispin gräbt in einem entlegenen Winkel der Libyschen Wüste eine sechsseitige Pyramide aus, die über 10.000 Jahre alt und damit das älteste steinerne Bauwerk auf der Erde ist. Bei der Öffnung der Kammer im Inneren der Pyramide kommt zwar einer der Forscher ums Leben, Krispin entdeckt aber einen ringförmigen Sarkophag, der mit Staub gefüllt ist und dem er einen goldenen Uroboros (eine gekrümmte Schlange, die sich in den Schwanz beißt) entnimmt.
Nach seiner Rückkehr nach Kairo macht Krispin die Bekanntschaft einer schönen, geheimnisvollen Frau. Seine Abreise aus Kairo führt ihn nicht etwa an sein Ziel, sondern in einen gigantischen Monolithen, der unzählige Welten zu enthalten scheint. Krispin wird zunächst im Palais der ägyptischen Totengöttin Meretseger gefangengehalten, in der er seine weibliche Bekanntschaft aus Kairo wiedererkennen würde, wäre sein Gedächtnis nicht teilweise blockiert... Nachdem er entkommen konnte, lernt er eine ausgesprochen bizarre Welt kennen: ausgehend von der ägyptischen Totenwelt Duat sind offenbar alle Höllenvorstellungen realisiert worden, die die Menschen in den letzten Jahrtausenden entwickelt haben. Und diese Welten sind mit jenen Menschen bevölkert, die in demselben Zeitraum gestorben sind und die verschiedene Leiden (nach Art und Schwere) als Buße ertragen müssen. Da Krispin davon überzeugt davon ist, nicht tot zu sein, sucht er einen Weg aus diesem Welten-Konglomerat heraus.
Marrak brennt ein Ideenfeuerwerk ab, das seinesgleichen sucht. Er kreiert Welten, Menschen, menschenähnliche und andere Wesen in großer Anzahl und in großer Vielfalt, mit Humor, Einfallsreichtum und Phantasie, aber auch mit blutigen Szenen; das Konzept der verschiedenartigen Nekropolen, die in einer Stadt zusammengefaßt sind, schöpft er tief aus. Er gönnt seinem Protagonisten keine Pause auf dem Weg durch die Sektoren der Duat. Der Leser wird sich freilich bis über die erste Hälfte des Romans hinaus die Frage stellen – wenn er dazu Gelegenheit findet, indem er sich aus der Handlung lösen kann –, warum MORPHOGENESIS als SF publiziert wurde. Im nachhinein wird klar, dass die zahlreichen Tode Krispins bereits ein Hinweis darauf waren, dass die Duat nicht auf einer mythischen oder jenseitigen, sondern auf einer technischen Ebene funktioniert (andererseits konnten die Tode und die Wiederbelebungen des Protagonisten auch schlicht darauf beruhen, dass er bereits tot ist und deshalb nicht nochmals sterben kann...). Die modernen Standart-Sujets der SF, die Marrak benutzt, lösen jeden vermeintlichen Widerspruch in der Handlung auf.
Die Tode Krispins und die 50 Milliarden Toten (so Marrak in seinem Nachwort), die die Duat bevölkern, werfen allerdings eine Parallele zum Roman DIE FLUSSWELT DER ZEIT von Philip José Farmer auf. Dort waren es zwar „nur“ 36 Milliarden Tote, die in der Flußwelt reproduziert werden, und der Protagonist des Romans stirbt, zugegeben, mehr Tode als Hippolyt Krispin auf seinem Weg aus der Duat hinaus. Sowohl in MORPHOGENESIS als auch in DIE FLUSSWELT DER ZEIT besitzt die Handlung einen kosmischen Hintergrund; das Ziel, das in MORPHOGENESIS verfolgt wird, ist aber ein gänzlich anderes als das in der Flußwelt. Außerdem stehen in DIE FLUSSWELT DER ZEIT eher die Protagonisten, weniger der Handlungsort im Vordergrund.
MORPHOGENESIS ist freilich zu umfangreich. Manche Büßerwelten sind zwar originell, der Aufenthalt in ihnen bringt Krispin aber nicht voran. Überflüssig ist auch die Parallelhandlung, die etwa 80 Seiten umfaßt und nur sehr wenige direkte Bezüge zum Hauptgeschehen hat. In der Parallelhandlung wird zwar die Bedeutung von Teilen der ägyptischen Mythologie, die Marrak in dem Roman verwendet, deutlicher, diesen Zweck erfüllt das Glossar aber genauso gut. Davon abgesehen ist MORPHOGENESIS der bislang in sich stimmigste Roman Marraks. Benötige der Autor in LORD GAMMA (Bastei/Lübbe TB 24301) gegen Ende des Romans noch einige Winkelzüge, um die Handlung zu einem befriedigenden Ende zu bringen, stand in IMAGON (Bastei/Lübbe TB 24325) die wissenschaftliche Atmosphäre des Romans seltsam kontrastierend dem Cthulhu-Mythos gegenüber, so ist Marrak in MORPHOGENESIS die Symbiose von Mythologie und Science Fiction hervorragend gelungen.

 

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