Dan Simmons

LOVEDEATH

„Lovedeath“, 1993, Nachdruck, aus dem Amerikanischen von Joachim Körber, Festa Horror TB 1512, 2005, 432 Seiten, 9,90 EUR.
Coverzeichnung: Rainer Schorm.

LOVEDEATH ist nach STYX (Heyne TB 9779, 1995) und WELTEN UND ZEIT GENUG (Festa SF 1801, 2004) die zweite Storysammlung des US-amerikanischen Schriftstellers Dan Simmons, den man als SF- und Horror-Autor nur unvollständig charakterisieren würde. Im Gegensatz zu WELTEN UND ZEIT GENUG ist LOVEDEATH keine deutsche Erstveröffentlichung, sondern erfreulicherweise ein Nachdruck, da die deutsche Erstausgabe (Blitz Verlag, 1999) inzwischen vergriffen war. Eines haben die beiden Sammlungen aber gemeinsam: Genauso wenig, wie WELTEN UND ZEIT GENUG ausschließlich SF-Kurzgeschichten enthält, beinhaltet LOVEDEATH nur Horror-Stories – Horror in dem Sinn, dass der Schrecken von jenseits unserer Welt auf die Protagonisten eindringt. Was sie verbindet, sind die beiden Teile des Titels, den Simmons für die Kurzgeschichtensammlung gewählt hat.
Auch LOVEDEATH enthält wie WELTEN UND ZEIT GENUG eine Story, die später zu einem Teil von Simmons Kriminalroman DAS SCHLANGENHAUPT (Goldmann TB 45105, 1999) wurde. Bereits „Das Bett der Entropie um Mitternacht“ wird aus der Sicht jenes Versicherungssachverständigen erzählt, der zum Protagonisten von DAS SCHLANGENHAUPT werden sollte. Die Story ist einerseits eine Reflektion des bisherigen Lebens des Protagonisten, andererseits die Schilderung obskurer bis vergnüglicher Schadenfälle, die, wie Simmons in dem Vorwort angibt, der Realität entsprechen.
„Tod in Bangkok“ erinnert an Simmons ersten Roman, GÖTTIN DES TODES (u. a. als Heyne TB 9038, 1991). Die Handlungsorte liegen in Asien – im Roman Kalkutta, in der Kurzgeschichte Bangkok –, und in beiden Arbeiten treffen die Protagonisten auf die Göttinnen/Dämoninnen der indischen bzw. der thailändischen Mythologie. „Tod in Bangkok“ ist die Kurzgeschichte in LOVEDEATH, die das Thema der Sammlung konsequenter als jede andere auf den sexuellen Aspekt reduziert. Der Arzt Dr. Merrick kehrt nach über zwanzig Jahren nach Bangkok zurück, wo er seinerzeit, während des Vietnamkriegs, mit einem Kameraden eine Woche Fronturlaub verbrachte. Damals lernten sie Mara kennen, die ihren Freiern einen Dauerorgasmus, damit aber auch ihren Tod bescherte.
„Tod in Bangkok“ ist die zweithärteste Story in LOVEDEATH, die freilich unter einer handwerklichen Unausgewogenheit leidet: Um den Plot der Story zu retten, muss Simmons seinem Protagonisten kurz vor dem Ende sowohl Homosexualität als auch eine Aids-Infektion andichten. Die dichte, beklemmende, zeitweise sexuell sehr aufgeladene Atmosphäre auf den Seiten zuvor beeinträchtigt das allerdings nicht.
In „Sex mit Zahnfrauen“ geht Simmons in die US-amerikanische Vergangenheit zurück. Die Story spielt Anfang des neunzehnten Jahrhunderts im Westen des Kontinents, ihr Protagonist ist der junge Lakota Sioux-Indianer Hoka Ushte. Hoka Ushte ist etwas triebgesteuert; als ihm eine Braut angeboten wird, hat er freilich nichts vorzuweisen – er ist weder Krieger noch Jäger. In dieser verfahrenen Situation entschließt er sich, sich zurückzuziehen, um eine Vision zu empfangen und ein Heiliger Mann zu werden – und er empfängt sie tatsächlich, was eine weitere Reise nach sich zieht. „Sex mit Zahnfrauen“ ist als Gegenentwurf zu DER MIT DEM WOLF TANZT konzipiert, was Simmons sowohl in dem Vorwort als auch in der Story deutlich macht. Er greift auf die Lebensumstände und die Mythologie der US-amerikanischen Indianer, um eine untergegangene Zivilisation in vielen Facetten plastisch vor dem Leser wiederauferstehen zu lassen. „Sex mit Zahnfrauen“ entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Der Protagonist will nur Sex, doch seine Vision macht ihn zum größten Propheten seines Volkes...!
„Flashback“ mutet wie eine Dicksche Zukunftsversion an. Flashback ist eine Droge, mit der ihre Konsumenten beliebige Erinnerungen wiedererleben können. Wegen Flashback haben die USA den Anschluss an die Weltwirtschaft verloren. Ihre Bürger geben sich entweder der Droge hin oder sind auf der Suche nach Erfahrungen, die sie unter Flashback immer erleben können, wie Morde und Vergewaltigungen. Und ein weiteres Phänomen tritt auf: Es stellen sich Erinnerungen ein, die nicht von dem Flashback-Konsumenten stammen können... „Flashback“ ist die pessimistischste Story in LOVEDEATH, immerhin erreicht (nur) der Vater der Protagonistin sein Ziel, auch wenn er dabei getötet wird.
„Der große Liebhaber“ ist die längste Story in LOVEDEATH und schildert in Tagebuchform die Erlebnisse des fiktiven britischen Dichters James Edwin Rooke im Ersten Weltkrieg (seine Gedichte in dem Text stammen tatsächlich von diversen Dichtern jener Epoche). Simmons gelingt es, das Grauen der Kämpfe in und zwischen den Schützengräben, das Dahinsiechen und Sterben in den Lazaretten dem Leser so unmittelbar zu vermitteln, als hätte er es selbst erlebt. Nach den ersten Tagen an der Front hat Rooke wenig Hoffnung, was sein eigenes Überleben angeht, doch er soll sich irren. Im Gegensatz zu seinen Kameraden erfährt er jedoch Hilfe aus einer anderen Welt, was simplifizierend sein mag, aber den Intentionen der Sammlung entspricht und vielleicht auch die Hilflosigkeit des Autors vor dem millionenfachen Sterben im Ersten Weltkrieg dokumentiert.
Erzählt werden alle Stories in der üblichen Brillanz des Autors. Vor allem für Leser, die bislang nur die (bereits sehr vielfältigen) Romane Simmons kannten, offenbaren sich in LOVEDEATH bislang unbekannte inhaltliche Aspekte im Werk des Autors: „Sex und Zahnfrauen“ und „Der grosse Liebhaber“ sind dafür die besten Beispiele.

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